Brigitte Waldach vor ihren "Goldbergvariationen" in den Berliner Reinbekhallen. Foto: @gerhardkassner. Ich schaue in schwarze Weite. Sie dehnt sich so gewaltig, als wollte sie mich verschlucken. In der Dunkelheit schweben weiße Lichtpunkte. Ein Sternenbild, ja, aber nicht irgendeines. Es ist die Konstellation der Gestirne aus dem Jahr 1741. Johann Sebastian Bach ersinnt die Goldbergvariationen. Der Blick in den Sternenhimmel als Funke der Inspiration: Das ist ein mächtiges Symbol, entweder zu gewaltig oder zu abgegriffen, um Gegenstand von Kunst werden zu können. Oder doch nicht? Mir wird vor der ausladenden Himmelszeichnung ein bisschen schwindelig. Die Künstlerin aber hat keine Angst. Brigitte Waldach lässt mit dem Weiß in Schwarz gezeichneten Sternenhimmel eine dreifache Sternstunde beginnen. Die gilt Bachs stellarem Klavierzyklus, Thomas Bernhards radikalem Pianistenroman „Der Untergeher“ und ihrem eigenen gezeichneten Zyklus „Goldbergvariationen“. 32 und zwei Blätter im Format von jeweils 195 mal 142 Zentimetern: Die Zahl korrespondiert mit Bachs Zyklus, diesem Zirkelkreis makelloser Perfektion. Eine Parallele. Eine Ambition. Die Berliner Künstlerin hat ihren Zyklus „Goldbergvariationen“ jetzt in den Reinbeckhallen in Berlin-Schöneweide präsentiert. Auf den ersten Blick passt die Umgebung des prekären Stadtteils nicht zu dieser Kunst, auf den zweiten schon. Die Reinbeckhallen gehören zu einer urbanen Cloud aus aufgelassenen Industriebauten. Peter Behrens, der legendäre Architekt und Erfinder der ersten Corporate Identity, hat hier Fabrikhallen errichtet. Die Produktion von einst ist vorüber. Ihre Hüllen stehen noch. Sie bieten mächtig viel Platz für eine neue, vor allem aber andere Produktion. Schöneweide ist der Stadtteil der Künstlerateliers. Olafur Eliasson, Alicia Quade, Jorinde Voigt und andere haben hier ihre Ateliers. Nackte Wände und Sprossenfenster als Kulisse für frische Ideen. Brigitte Waldachs "Goldbergvariationen" (Detail). Foto: Stefan Lüddemann. Die Reinbeckhallen sind erst 2017 auf die kreative Stadtkarte Berlins gerückt. Hier finden temporäre Präsentationen statt. Brigitte Waldach zeigt ihre Zeichnungen auf 1000 Quadratmetern in einer Halle. Alter Industriebau, Szeneloft, Kunstgalerie: Irgendwie spielt das hier alles ineinander. In den Zeichnungen geht es darum, wie große Kunst entsteht. Bei Bach wird sie geboren, wie eine Supernova im fernen All. Scheinbar, weil wir wenig von der Mühe wissen, die der Komponist mit seinen Variationen hatte. In den Reinbeckhallen wird nun eine andere Kunst erstmals sichtbar und es wirkt so, als werde sie gerade dadurch auch überhaupt erst geboren. Kunst muss heraus aus der Werkstatt, hin zu den Menschen, die sie sehen, hören, über sie sprechen können. Vorher hat keine Kunst kaum eine Chance, wirklich Kunst zu sein. Der Terrorismus, die Gleichberechtigung der Frau, der Tod des Osnabrücker Malers Felix Nussbaums im Konzentrationslager von Auschwitz: Brigitte Waldach schreckt vor keinem der großen Themen zurück. Nun also Bachs Goldbergvariationen, der Inbegriff eines Gipfelwerks. Ein klingender Mythos. Wer daraus wiederum Kunst machen will, darf diese Komposition nicht einfach bebildern, er muss ihr strenges Gesetz zu seinem eigenen machen. Das ist die Aufgabe. Brigitte Waldach weiß das. Sie hat ihre eigenen Variationen erfunden und auf den Zeichnungen ein komplexes Verweissystem etabliert. Ihre Zeichnungen kommen aus nächtlicher Schwärze wie in plötzlicher Evidenz auf mich zu. Die Sternenkonstellationen, in der Mitte ein Block aus flirrender Notenschrift, dazu Silhouetten von Städten, Grundrisse von Kirchen, Schemen von Figuren. Waldachs Zeichnungen funktionieren wie ein Film, der auf mehreren Ebenen spielt, oder wie eine Erzählung mit parallelen Handlungssträngen. Brigitte Waldach vor ihren "Goldbergvariationen" in den Berliner Reinbekhallen. Foto: @gerhardkassner. Auf der einen Ebene folgt Waldach den Notationen Johann Sebastian Bachs. Sie schweben wie luzide, zarte Körper in der Mitte jedes der schwarzen Blätter. Auf der zweiten Ebene erzählt die Künstlerin eine Geschichte, die biografisch beginnt und später immer weiter in kosmische Dimension ausgreift. Die Stadtsilhouetten von Eisenach, Salzburg und Toronto verklammern Johann Sebastian Bach, seinen kongenialen Interpreten, den Pianisten Glenn Gould und den Schriftsteller Thomas Bernhard miteinander. Bernhard hat 1983 „Der Untergeher“ publiziert, einen Roman über Glenn Gould und vor allem über jene angehenden Pianisten, die an ihm und damit am Ideal unerreichbarer Perfektion scheitern. Waldach lässt neben der Notenschrift auch den Text dieses Romans mitlaufen, indem sie einzelne Wörter oder Sätze zitiert. Die Textfragmente ziehen sich wie Sprachbänder über die Zeichnungen – oder wie zarte Fahnen, die über und unter den Noten schweben. Dieser Zyklus handelt von Bach, aber vor allem davon, wie Kunst, Musik und Literatur ineinander verwoben sein können. Noch ein großes Ziel? Ja. Brigitte Waldachs Kunst ist ganz darauf ausgelegt, große Inhalte zu tragen. Auf ihren Zeichnungen lässt sie Wörter und Sätze zu wolkigen Zeichnungen verschweben. Aus Notationssystemen macht sie Bilder, aus Sprache eine ästhetische Sensation. Sie zeigt damit, wie Sprache noch Bedeutung gewinnen kann – nicht nur über das, was Wörter bezeichnen, sondern auch über jene Verweise, die in der Verdichtung der der Wörter zu Zeichnungen, der Sätze zu Bildern entstehen. Brigitte Waldach zeichnet, genau genommen, Diskurse und weist sie damit als das aus, was sie sind: gesellschaftliche Notationssysteme. Auch ihre gezeichneten Goldbergvariationen sind zu einem Teil so zu verstehen. Bedeutung entsteht in einer Verdichtung der aufeinander bezogenen Zeichen. Der Bilderzyklus muss deshalb unbedingt in der Leserichtung wahrgenommen werden, von links nach rechts, von seinem Anfang bis zu seinem Ende. Er ist zu betrachten und gleichzeitig zu lesen. Und er ist zu erwandern. Die Halle meint es gut mit diesem Zyklus. Rippen unterteilen die Wände in passende Abschnitte. In jeden passt jeweils eine Trias von Zeichnungen, jede viereinhalb Meter breit. Der Zyklus teilt sich auf diese Weise in die Abschnitte auf, die Bachs Goldbergvariationen entsprechen, und zugleich in Abschnitte einer Erzählung, die vom biografisch fasslichen Lebensbeginn in unendliche Weiten führt. Die Silhouetten der Städte Eisenach, Salzburg und Toronto verweisen auf Bach, Bernhard und Gould, die später auch als Figuren auftauchen, jede als einsamer Spaziergänger des eigenen Lebens- und Werklaufs. Einsame Genies, in Mäntel gehüllt. Brigitte Waldach inszeniert ihre Variationenreihe als Sternenreise. Über den Lüstersaal von Sanssouci geht es ins Weltall, zu Planetengebirgen. Eine neue Schöpfung geschieht, die Raumsonde Voyager fliegt ins All, eine Aufnahme der Goldbergvariationen an Bord. Kosmisches Licht blitzt auf, Notenschriften flirren als weißes Rauschen der Unendlichkeit vor meinen Augen. Wertheimer war nicht imstande, sich selbst als ein Einmaliges zu sehen, wie es sich jeder leisten kann und muss, will er nicht verzweifeln, gleich was für ein Mensch, er ist ein einmaliger, sage ich selbst mir immer wieder und bin gerettet (Thomas Bernhard: Der Untergeher). Brigitte Waldachs "Goldbergvariationen". Detail: Figuren von Thomas Bernhard und Johann Sebastian Bach. Foto: Stefan Lüddemann Ist das alles nicht zu viel? Oder genau so richtig? Brigitte Waldachs Kunst besitzt einen Kern, der zugleich ihr Strukturprinzip ist: die Symbiose von Schrift und Zeichnung und damit von Bild und Bedeutung. Diese Klammer hält Sinnlichkeit und Intellekt zusammen. Sie erweist sich auch bei ganz großen Themen als außerordentlich belastbar. So gelingen Brigitte Waldach auch ihre eigenen Variationen. Sie behält ihr Thema bei – die Noten, die Sternenbilder – und lässt über diesen Akkorden die Melodie einer großen Erzählung schwingen. Brigitte Waldachs Zyklus verknüpft konzeptionelle Strenge mit sinnlicher Präsenz. Diese Goldbergvariationen fesseln als strenge Übung, sie faszinieren als Bilderfolge, die den Ausgriff in die ganz großen Themen wagt – auch mit der Frage, was Kunst mit Transzendenz verknüpfen könnte. Die Berliner Künstlerin zeigt, was dem Bild zugetraut werden kann – in einer Zeit, die dem Tafelbild misstraut. Oder es als bloße Auktionsware vergöttert.
Die Präsentation in dem Berliner Reinbeckhallen hat mit geläufigen Formen der Präsentation, mit Museum, Galerie oder gar Kunsthandel nichts zu tun. Noch nicht. Die Reinbeckhallen erleben mit dieser Präsentation, die an einem Sonnabend als Empfang für knapp 30 Personen beginnt, und am Montag und Dienstag der folgenden Woche noch fortgesetzt wird, in einem bestimmten Sinn die Geburt eines Kunstwerkes. Sicher, Brigitte Waldach und drei Assistentinnen haben wochenlang die großformatigen Blätter mit Graphit bearbeitet, aus nachtschwarzen Schraffuren und Strichlagen wie weiß belassenen Motive ausgespart. Eine Knochenarbeit. Aber nun geht es darum, den Zyklus zu den Goldbergvariationen ins Licht der Wahrnehmung und auf diese Weise zur Welt zu bringen. Zu der Präsentation kommen Sammler, Kuratoren, Galeristen, Journalisten, kurz Personen, die ihre jeweilige Rolle in der Kunstwelt spielen und über sehr unterschiedliche Optionen verfügen, den Zyklus von Brigitte Waldach in die Art World gleichsam einzuspeisen – durch Kauf, Ausstellung, Vermittlung, Text oder bloßes Weitersagen. Am zweiten und dritten Tag der Präsentation wird der Zyklus fotografiert und per Drohne gefilmt. Die gezeichneten „Goldbergvariationen“ werden in Aggregatzustände weiterer, medial vermittelter Wahrnehmung überführt, zu denen auch dieser Text eines Kulturblogs gehört. Das alles eröffnet die Option zu Anschlüssen der Kunstwelt. Wo und wie werden wir Brigitte Waldachs „Goldbergvariationen“ wiedersehen? Einstweilen haben diese Blätter eine Erinnerungsspur in das Gedächtnis ihrer Betrachterinnen und Betrachter gezeichnet. Eine kosmische Spur, in der Tat. Berlin, Reinbeckhallen, November 2019
2 Comments
Tobias Sunderdiek
1/10/2020 12:07:16
"Jahrelang dachte ich, bei den Goldberg-Variationen handele es sich um das, was Mr. und Mrs. Goldberg im Bett treiben." (Woody Allen)
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GEDANKENÖl & Tinte: So heißt mein Blog. Und das ist die Kurzform für die beiden Medien, in denen sich Kultur für mich am schönsten verwirklicht – in der Kunst und in der Literatur. In meinem Blog schreibe ich über Ausstellungen und Lektüren, über Erlebnisse mit und Reflexionen über Kunst. Archiv
February 2020
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